EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VIIII: Lazare Saminsky – Second Tale (1919)
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EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
I: Alexander Weprik – Piano Sonata no. 1 (1922)

1 Sonata no. 1 EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
I: Alexander Weprik – Piano Sonata no. 1 (1922)
1 Sonata no. 1

II: Arthur Lourié – Nocturne (1928)

2 Nocturne (1928) EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
II: Arthur Lourié – Nocturne (1928)
2 Nocturne (1928)

III: Arthur Lourié – Intermezzo (1928)

3 Intermezzo (1928) EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
III: Arthur Lourié – Intermezzo (1928)
3 Intermezzo (1928)

IV: Arthur Lourié – Menuet after Gluck (1914)

4 Menuet after Gluck (1914) EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
IV: Arthur Lourié – Menuet after Gluck (1914)
4 Menuet after Gluck (1914)

V: Arthur Lourié – Sonatina no. 3 (1917)

5 Sonatina no.3 (1917) EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
V: Arthur Lourié – Sonatina no. 3 (1917)
5 Sonatina no.3 (1917)

VI: Joseph Achron – Concerto for Piano Alone (1941)

6 Stately EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VI: Joseph Achron – Concerto for Piano Alone (1941)
6 Stately

7 Jolly EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VI: Joseph Achron – Concerto for Piano Alone (1941)
7 Jolly

8 Poetically EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VI: Joseph Achron – Concerto for Piano Alone (1941)
8 Poetically

9 Energetic and capricious EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VI: Joseph Achron – Concerto for Piano Alone (1941)
9 Energetic and capricious

VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)

10 Allegro non troppo EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
10 Allegro non troppo

11 Andantino con anima EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
11 Andantino con anima

12 Andantino EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
12 Andantino

13 Andantino non troppo EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
13 Andantino non troppo

14 Andantino EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
14 Andantino

15 Con fuoco EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VII: Alexander Krein – Suite dansée (1928)
15 Con fuoco

VIIII: Lazare Saminsky – Second Tale (1919)

19 Second Tale EDA 16: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.3: Waiting Room
VIIII: Lazare Saminsky – Second Tale (1919)
19 Second Tale

english translation not (yet) available. apologies. german version below.

"Warten können, das ist alles."

"Es war ein Wartesaal und gleichzeitig ein Gefängnis. Klingeln schrillten, Signale gellten, Lokomotiven pfiffen, Lautsprecher klangen, Züge wurden ausgerufen. Aber die Züge, auf welche diese Menschen warteten, wurden nicht ausgerufen... Sie hockten da auf verlumpten Bündeln und Koffern, mit sinnlos zusammengerafftem Hausrat,... man wartete schon so lange, dass es keine Jahreszeiten mehr gab und keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht." (Lion Feuchtwanger: "Exil")

Millionen von Menschen wurden im 20. Jahrhundert von totalitären Regierungen ins Exil getrieben. Sie mussten dann oft jahrzehntelang auf eine Rückkehrmöglichkeit warten. Wahrscheinlich noch größer war die Anzahl derjenigen, für die die Emigration aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, die sich äußerlich mehr oder weniger den Verhältnissen anpassten und sich dabei gleichzeitig in eine Art inneres Exil begaben.

Solch ein Exilschicksal wurde nicht nur Menschen, sondern auch Kunstwerken zuteil. Unzählige Werke wurden aus dem öffentlichen Kulturleben eliminiert, in der ganzen Welt zerstreut und schließlich vergessen. In Archiven, Bibliotheken und Depots von Museen kaum zugänglich, mussten auch sie viele Jahrzehnte ihrer Rückkehr harren.

Die kommunistische Diktatur in der Sowjetunion, die mehr als siebzig Jahre dauerte, ließ ihren Flüchtlingen keine Chance, die Wende zu erleben. Auch die zwischen 1880 und 1900 geborene Generation von Künstlern, die das "Silberne Zeitalter" – eine Blütezeit der russischen Kultur – geprägt hatte, ist in der Emigration ausgestorben oder wurde von stalinistischen Säuberungen vernichtet.

Ihre Werke aber, die erst in den letzten Jahren wiederentdeckt und der erstaunten Öffentlichkeit präsentiert wurden, haben bei weitem nicht nur einen historischen Wert. Im Gegenteil: Ihre Ausstrahlung ist beinahe noch stärker als vor siebzig Jahren, und sie wirken oft lebendiger und interessanter als vieles, was seither entstanden ist. So wird diese vergessene Kunst jetzt zu neuem Leben erweckt: Das lange Warten ist beendet, ihr Zug wird nun endlich ausgerufen.

Als Alexander Krein 1951 starb, wütete in der Sowjetunion die schlimmste antisemitische Hetzkampagne, die die letzten Reste einer eigenständigen jüdischen Kultur vernichtete. Viele jüdische Intellektuelle wurden um diese Zeit ermordet oder in den GULag geschickt. Krein war es allerdings vergönnt, eines natürlichen Todes zu sterben. Als Autor des Balletts Laurensia und anderer, im Sinne des sozialistischen Realismus komponierter Werke war er sogar ein von der Sowjetmacht geförderter Künstler. Man erinnerte sich jedoch kaum daran, dass er in den 20er Jahren zu den bedeutendsten Komponisten der Neuen Jüdischen Schule gehärt hatte. Gerade seine originellsten Werke aus jener Zeit waren seit Beginn der 30er Jahre verboten.

Krein stammte aus einer musikalischen Familie. Sein Vater war Volksdichter und Klezmer-Musiker, und dessen sieben Söhne schlugen allesamt Musikerkarrieren ein. Manche von ihnen wurden sogar berühmt, wie David, Primarius des Moskauer Trios und Konzertmeister im Orchester des Bolschoi-Theaters, oder Grigori, ein bekannter Komponist.

Alexander Krein wurde in seiner Jugend von Skrjabin beeinflusst, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verband. Erst relativ spät konnte er den Weg zu seinem eigenen Stil finden. Die Musik Kreins ist durch und durch romantisch und voll intensiver Emotionen, die oft einen pathetischen, manchmal sogar ekstatischen Ausdruck annehmen. Die Suite dansée (1928) besteht aus sechs Stücken, die eigentlich Fantasien über jüdische Themen sind. Offensichtlich benutzte Krein originale Melodien, die verschiedenen Sphären jüdischer Musik entstammen: ein Klezmer-Tanz (Nr. 5), jiddische Lied-Folklore (Nr. 1, 2, 4), synagogaler Gesang (Nr. 3) und biblische Tropen (Nr. 6 – dieses Stück ist im Autograph als "Marche hébraïque" bezeichnet). Trotzdem sind die Stücke nicht einfachfolkloristische Bearbeitungen. Harmonisch reich koloriert, mit pianistischer Brillanz und Fantasie entwickelt, werden sie zu effektvoller Konzertmusik.

Krein schloss sich bereits 1909 der Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik an. Eine besonders wichtige Rolle spielte er aber in der 1923 in Moskaus neu gegründeten Gesellschaft für jüdische Musik, die von dem Komponisten Michail Gnessin geleitet wurde und deren stellvertretender Vorsitzender Krein war. In den wenigen Jahren ihres Bestehens konnte diese Gesellschaft unter schwierigsten materiellen Bedingungen (es gab kaum noch private Kulturförderer, und der Staat wollte eine derartige Einrichtung nicht unterstützen) beträchtliche Aktivitäten entwickeln. Es gelang zwar nicht, wie früher in Petersburg, einen jüdischen Musikverlag zu gründen, und auch die ethnologische Forschung konnte kaum finanziert werden. Dafür wurden viele hochinteressante Konzerte mit Werken moderner jüdischer Komponisten veranstaltet. Dort traten herausragende russische Interpreten auf, darunter die Pianisten Samuil Feinberg und Maria Judina, auch das berühmte Beethoven-Quartett war schon seit seiner Gründung der Gesellschaft eng verbunden. Die Gesellschaft konnte vor allem junge jüdische Komponisten dazu ermutigen, sich mit jüdischer Musik zu beschäftigen.

Einer von ihnen war Alexander Weprik. Er hatte damals gerade sein Studium abgeschlossen und wurde als Lehrer ans Moskauer Konservatorium berufen. Schon seine ersten Werke sind ein beredtes Zeugnis seiner Begabung. Seine 1. Sonate (1922) entstand noch in der Studienzeit. Sie gehört zum Typ der einsätzigen Klaviersonate, der in den 20er Jahren von vielen russischen Komponisten gepflegt wurde. Wepriks harmonische Sprache knüpft hier noch teilweise an Skrjabin an, sein Stil ist Jedoch schon vollkommen eigenständig. Die Komposition ist sehr knapp und hat einen klaren Formaufbau. Auffällig ist die Bevorzugung des tiefsten Klavierregisters, ein für Weprik charakteristisches Stilmerkmal. Eine innere emotionale Kraft, die sich immer wieder in pathetischen Steigerungen offenbart und die schließlich in der Coda verklärt wird, verleiht dieser Sonate ihre besondere Ausstrahlung.

Weprik zählte zu den aktivsten Mitgliedern der Gesellschaft für jüdische Musik in Moskau, er gehörte ihrem Vorstand an und war somit gezwungen, den qualvollen Prozess ihrer Auflösung mitzuerleben. Schon ab 1929 musste die Gesellschaft auf Druck der Behörden statt anspruchsvoller Konzerte Agitprop-Veranstaltungen für Arbeiter organisieren, Gleichzeitig geriet sie unter massive Kritik der Presse, die sie als "reaktionär" und "antisowjetisch" diffamierte. Die jüdischen Komponisten hatten in der Atmosphäre des wachsenden Terrors Grund, um ihr Leben zu fürchten. Viele von ihnen versuchten, durch neue, ideologisch angepasste Werke ihre Lage zu verbessern. Weprik hatte damit in den 30er Jahren sogar beträchtliche Erfolge.

Nach 1938 verschwand sein Name aber vollständig von den Konzertprogrammen. Er wurde 1943 zusammen mit einigen anderen jüdischen Professoren aus dem Moskauer Konservatorium entlassen. 1950 kam Weprik schließlich unter anderem wegen des "Komponierens zionistischer Musik" in den GULag. Erst vier Jahre später wurde der schwerkranke Komponist aus dem Lager entlassen.

Solche Erfahrungen sind Joseph Achron möglicherweise nur deswegen erspart geblieben, weil er Sowjetrussland frühzeitig verlassen hatte. Achron war neben Jascha Heifetz, Efrem Zimbalist und Mischa Elman einer der bedeutendsten Schüler von Leopold Auer. Er studierte 1904–1905 auch bei Joseph Joachim und avancierte bald zu einem europaweit bekannten Violinvirtuosen und namhaften Komponisten.

1922 ging Achron nach Berlin, wo er zusammen mit Michail Gnessin künstlerischer Leiter des jüdischen Musikverlags Jibneh wurde. Neben dem von Joel Engel geleiteten Juwal-Verlag wurde Jibneh zum Zentrum musikalischer Aktivitäten der russisch-jüdischen Emigranten in Berlin. Einige Zeit schien es sogar aussichtsreich, die Tätigkeit der Neuen Jüdischen Schule auf deutschem Boden wiederzubeleben. Aber die Wirtschaftskrise in Deutschland setzte bald allen Hoffnungen ein rasches Ende. Für viele russische Emigranten wurde Berlin schließlich nur noch eine kurze Zwischenstation. Auch die beiden jüdischen Musikverlage verschwanden bald aus der Berliner Kulturszene.

Ab 1925 lebte Achron in den USA, wo er aber als Komponist wenig Beachtung fand. Trotz einzelner wichtiger Erfolge (wie die Uraufführungen seines 1. Violinkonzerts unter Serge Koussevitzky und des 2. Violinkonzerts unter Otto Klemperer) konnten sich Achrons Werke im amerikanischen Musikleben nicht durchsetzen. Gerade seine späteren, bemerkenswert avancierten Werke, die den stilistischen Rahmen der jüdischen Musik ungemein erweitern, stießen auf ablehnende Reaktionen. Nach seinem frühen Tod 1943 vermerkte sein Freund Arnold Schönberg in einem Nachruf: "Achron war einer der am meisten unterschätzten modernen Komponisten, aber die Qualität seiner Musik wird ihre Zukunft sichern."

In seinen letzten Lebensjahren verzichtete Achron fast vollständig auf Konzertauftritte, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Konsequent und unablässig verfolgte er sein Ideal einer modernen, zeitgemäßen jüdischen Musik.

Die bedeutsame Inspirationsquelle seines Spätwerks blieben nach wie vor jüdische Tropen - Motive der rituellen Bibellesung. Dieser melodische Schatz wurde von Achron jetzt aber viel freizügiger behandelt, manchmal mit frappierend avancierten Mitteln. Während er in den 20er Jahren die Tropen-Motive mit impressionistischen, farbenprächtigen Harmonien umhüllte, benutzte Achron nach 1930 bevorzugt Polyphonie, oft hart klingende, polytonale oder polymodale Schichtungen.

Das gilt auch für sein letztes Werk, das Konzert für Klavier allein (1941), dessen polyphone Gestaltung an barocke Formen anknüpft. Die Satzfolge dieser viersätzigen Komposition (langsam – schnell – langsam – schnell) folgt dem Schema der Instrumentalwerke von Corelli oder Vivaldi. Zudem erinnert der dritte, langsame Satz des Konzerts von Achron mit seiner ausdrucksvollen, "unendlichen" Melodie und einer nach Art des Basso continuo stilisierten Begleitung an den zweiten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach.

Der erste Satz des Konzerts für Klavier allein verbindet den gemessenen Schritt einer feierlichen Intrada mit der rhythmischen Freiheit des synagogalen Gesangs. Der zweite Satz ist auf drei modalen Themen aufgebaut, von denen das erste hüpfende Motiv dem "Lied von der Not" aus Schostakowitschs später entstandenem Zyklus Aus der jüdischen Volkspoesie ähnlich ist. Das Finale glänzt mit immer neuen satz- und spieltechnischen Kunststücken. Sein Reiz besteht aber vielmehr in seinem mitreißenden Humor, der die technischen Schwierigkeiten beinahe vergessen lässt.

Unter den wenigen Freunden, die Achron in den USA unterstützten, war Lazare Saminsky, sein ehemaliger Kommilitone am St. Petersburger Konservatorium und Mitstreiter in der Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Schon damals zeichnete sich Saminsky durch seine unerschöpfliche Energie, sein Temperament und durch ungewöhnliche Vielseitigkeit aus. Er hatte außerdem ein ausgeprägtes organisatorisches Talent und beherrschte perfekt mehrere Sprachen. Es ist also kein Wunder, dass sich Saminsky in den USA, wo er ab 1920 lebte, viel schneller etablieren konnte als die meisten seiner Schicksalsgenossen. Mit dem gleichen Engagement wie zuvor in der Gesellschaft für jüdische Volksmusik gründete er nun kurz nach seiner Ankunft in der neuen Heimat die League of Composers, die er dann 25 Jahre lang leitete. Diese Organisation, zu deren Mitgliedern viele prominente Komponisten zählten, war in Amerika die wichtigste Vorkämpferin für zeitgenössische Musik.

Saminsky initiierte unter anderem solche herausragenden Musikereignisse wie die amerikanischen Erstaufführungen von Pierrot lunaire von Arnold Schoenberg und Les Noces von Igor Strawinsky. Vor allem engagierte er sich für junge amerikanische und russische Komponisten.

1929 gründete Saminsky einen internationalen Konzertverein "The New York Polyhymnia" mit Vertretungen in Paris, Berlin und Mailand, dessen Devise lautete: "Den internationalen Austausch unbekannter Musikkulturen und unbekannter Werke fördern, alter und neuer. ["To foster international exchange of unknown musical cultures and of unknown works, old and new."]

Seine eigenen Werke, die in den 20er Jahren von Dirigenten wie Serge Koussevitzky, Pierre Monteux, Willem Mengelberg, Walter Damrosch und Allan Busch aufgeführt wurden, fristeten später immer mehr ein Schattendasein. In der Nachkriegszeit, als eine neue Komponistengeneration ihren Anspruch auf die Avantgarde-Positionen durchsetzte, interessierte sich niemand mehr für seine Musik, die nun fast konservativ anmutete, Das war nicht nur Saminskys Los – viele interessante Komponisten wurden als nicht mehr zeitgemäß von der Musikszene verdrängt. Erst jetzt, an der Wende des Jahrhunderts, erweist es sich allmählich, dass die kreativen Impulse der frühen Moderne (1910–1940) oft origineller und vor allem lebensfähiger sind als viele Modeerscheinungen der nachfolgenden Zeit.

Auffällig ist der programmatische Charakter der meisten Werke von Saminsky. Das drückt sich nicht unbedingt in einem konkreten Programm aus, sondern eher im ungewöhnlich plastischen Gestus seiner Musik. Die freie rhapsodische Form lässt eine Art musikalisches "Sujet" vermuten. Das gilt auch für Deuxième conte ("Zweites Märchen", 1919), dessen zartes Thema im Mittelteil plötzlich bedrohliche Züge annimmt.

Die Three Shadows ("Drei Schatten", 1935) wurden von Saminsky in zwei Fassungen komponiert: für Klavier und für Orchester. Die drei "Poems" (so der Untertitel) sind dem Andenken an, den großen amerikanischen Dichter Edwin Arlington Robinson gewidmet; sie entstanden als unmittelbare Reaktion auf dessen Tod im August 1935. Entsprechend traurig ist ihre Grundstimmung, die sich lediglich im zweiten Stück aufhellt. Dieses zweite Poem trägt den Titel "A Poet" (Ein Dichter) mit einem Motto von Robinson:

"A singing voice that gathered and ascended,
Filled the vast dome above till it glowed
With singing light."
["Eine singende Stimme, die anschwillt und aufsteigt,
Erfüllt die gewaltige Kuppel, bis sie leuchtet
Voll singenden Lichtes."]

Diese von Licht erfüllte Musik wird von zwei düsteren Stücken umrahmt. Dem ersten, "Omen", ist ein Gedicht von Pitts Sanborn vorangestellt:

"Seek not to turn all vintages to blood;
Leave me one city, War, on a crown stream,
The crumbling cornices, the dust, my dreams."
["Suche nicht allen Wein in Blut zu verwandeln;
Lass' mir eine Stadt, Krieg, an einem geweihten Fluss,
bröckelnde Mauern, Staub, meine Träume."]

Das letzte Poem mit einem Gedicht von Carl Sandburg heißt "Grass" (Gras), mit dem Untertitel "A Dirge" (Ein Klagegesang):

"Pile up the bodies high at Austerlitz and Waterloo,
Shovel them under and let me work –
I am the grass; I cover all.
And pile them high at Gettysburg.
I am grass; let me work."
["Schichtet die Leichen auf in Austerlitz und Waterloo,
Begrabt sie und lasst mich ans Werk –
Ich bin das Gras, ich decke alles zu.
Und schichtet sie hoch auf in Gettysburg.
Ich bin das Gras, lasst mich ans Werk."]

Auch Arthur Lourié führte sein Exilschicksal schließlich in die Neue Welt. Er verließ Sowjetrussland im gleichen Jahr wie Achron (1922), ging ebenfalls zuerst nach Berlin, lebte dann aber ab 1924 in Paris. 1941, als Frankreich von deutschen Truppen besetzt wurde, floh Lourié, der ein getaufter Jude war, in die USA.

Zehn Jahre lang, 1913–1922, stand Lourié im Mittelpunkt der russischen Avantgarde. Als vielbeachteter Komponist gehörte er neben Ossip Mandelstam, Wsewolod Meyerhold, Wladimir Majakowsky, Anna Achmatowa und Wladimir Tatlin, mit denen er eng befreundet war, zu den Protagonisten der russischen modernen Kunst. Seine frühen Werke zeichneten sich nicht nur durch eine sehr avancierte Musiksprache aus, die ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus war. Vielmehr waren sie Ausdruck einer neuen Ästhetik, in der das spirituelle Element, im Gegensatz zu den zeitgenössischen westeuropäischen Strömungen, eine wichtige Rolle spielte. Diese Ästhetik strebte ein neues Verständnis von Zeit und Raum in der Kunst an, vor allem aber suchte sie den für die russische Kunst traditionellen moralischen Anspruch zu erneuern.

Im Westen fand Lourié zunächst reges Interesse für seine Person und seine Musik. In Berlin war er Mitbegründer der Internationalen Komponistengilde (eine Vorläuferin der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik). Seine Werke wurden oft aufgeführt – beispielsweise in einem Konzert des berühmten Amar-Quartetts mit Paul Hindemith als Bratscher. Auch in Paris mangelte es nicht an Aufführungen und Kompositionsaufträgen. Ab Ende der 20er Jahre ist bei Lourié aber eine wachsende Entfremdung und Vereinsamung spürbar. Grund dafür war seine zunehmende Ablehnung der neuen Musik. Er zog sich immer mehr von der Musikszene zurück und drückte seine Verbitterung und Enttäuschung in scharfkritischen Artikeln aus: "Musik ist offenkundig nihilistisch geworden, Musik wird auf Nicht-Dasein gegründet... Diesen Kurs steuernd, hat der Modernismus entschlossen, allem den Vorrang gegeben, was in der Kunst unpersönlich ist und bar jeder Art von subjektiver Expression. Hierin liegt die 'Objektivität', die eins der grundsätzlichen Ideale unserer Zeit ist."

In den USA konnte Lourié im Musikleben überhaupt nicht mehr Fuß fassen. Nach dem Tod seines Förderers Koussevitzky gab es niemanden in der Musikszene, der sich für ihn interessierte. Lourié verbrachte seine letzten Jahre in Princeton im Haus seines langjährigen Freundes, des französischen katholischen Philosophen Jacques Maritain, der ihn aus materieller Not rettete.

Louriés Kompositionen dieser Aufnahme ist gemeinsam, dass sie an die Musik anderer Komponisten anknüpfen. Im Menuett nach Gluck (1914) verrät das schon der Titel; in der 3. Sonatine (1917) sind Skrjabinsche Deklamationen unüberhörbar. Im Nocturne (1928) und im Intermezzo (1928) erkennt man Melodie- und Begleitfloskeln von Chopin und Brahms, aber auch Unterhaltungsmusik der 20er Jahre, wie Chansons (Nocturne) oder lateinamerikanische Tänze aus dem Bandoneon-Repertoire (Intermezzo) finden Eingang in diese Musik. Trotzdem macht sie keinen eklektischen Eindruck.

Zu Beginn der 1920er Jahre wurde der Neoklassizismus zu einer beliebten Modeströmung. Seine distanziert ironische Haltung war Lourié aber eher fremd (er bezeichnete Ironie in der Musik sogar als "maskierte Feigheit"). Es war sein Bestreben, eine Synthese, einen persönlichen Kosmos aufzubauen. Er schloss neben den ureigenen Elementen seiner Musiksprache auch Bruchteile der für den Komponisten bedeutsamen und vertrauten Unterhaltungsmusik und klassischer Musik der Vergangenheit ein (solche "synthetische" Methode verwendeten später auch zwei andere große russische Komponisten, Dmitrij Schostakowitsch und Alfred Schnittke). Diese verschiedenartigen Komponenten werden durch den persönlichen emotionalen Ton und die Innigkeit der Aussage geeint. Es ist oft eine tiefe Traurigkeit, die Louriés Musik einen schwermütigen, manchmal sogar resignierten Charakter verleiht.

Inzwischen ist Lourie nicht mehr völlig unbekannt. Allerdings sollten einzelne Aufführungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Werke eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts noch immer im Schatten des Vergessens liegen.

Jascha Nemtsov

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